Tina aus dem sweetrabbits-Team berichtet:
"Kann man das noch essen oder kann das weg?" - so redet man über den Joghurt oder die schrumpelige Paprika, aber über ein Lebewesen? Ein Kaninchen? Für uns wohl eher unglaublich. Wenn man jedoch nicht nur mit Haltern von Liebhabertieren Kontakt hat, um sich dort für bessere Lebensbedingungen von Kaninchen einzusetzen, trifft man leider auch auf diese Einstellung zu diesen wunderbaren Tieren. So kam es, dass man mir eine wildfarbende Kaninchendame zeigte, die eine riesige Beule auf dem Rücken hatte, völlig abgemagert und verängstigt in der Ecke saß und nicht viel mit der anderen Häsin in ihrer Bucht zu tun haben wollte. Das hätte sie schon länger, ob das Krebs sei und man sie noch essen kann oder lieber schlachten und "in den Müll schmeißen soll".Meine Antwort: nichts von beidem. Es kann vieles sein. Ein angeborener Defekt (man wüsste nicht, ob das von Anfang an so sei, ist aber größer geworden), eine bösartige Wucherung oder ein Abszess. Aber bereit Geld für die Abklärung auszugeben, das ist bei den meisten dieser Hobby-Schlachtkaninchenhalter nicht drin. Deshalb schenkte man sie mir - als Tiermedizinstudentin könnte ich damit ja "üben" sagte man mir und so begann für dieses eine Tier aus dem Bestand der Weg in ein anderes Leben.
Der direkte Weg führte zum Tierarzt und nach Betasten der zwei Tennisball großen (!!!) Beule gingen wir von einem Abszess nach einer Bisswunde aus. Bei der Eröffnung des Ganzen wurden wir dann bestätigt. Dass ein Tier mit einer so großen Eiteransammlung im Verhältnis zur Körpergröße überhaupt noch so lebendig sein konnte war ein Phänomen. Die Tierärztin sagte, einen solchen Abszess habe sie noch nie gesehen.
Es wurde beschlossen, den eigentlich gut abgekapselten Abszess täglich zu spülen und die wildfarbende Schönheit kam mit mir nach Hause. Doch Außenhaltung bei eisiger Winterkälte und keine Menschen gewohnt, war es für sie bei uns im Haus zunächst größter Stress, so dass ich beschloss, sie doch anderweitig unterzubringen. Mein Großvater hielt ebenfalls Schlachtkaninchen und so bat ich ihn, eine untere Bucht und den kompletten Boden seines Gartenhauses vorübergehend zu räumen, worin "seine" Kaninchen lebten. Er willigte ein, wohl eher mir zu liebe und bot sich sogar als Helfer für das Spülen an. Die Häsin war mit dem Platzangebot völlig überfordert und bewegte sich nicht freiwillig aus ihrer "sicheren" Bucht heraus.
Jeden Tag wurde gespült, es kam immer wieder Eiter, doch zunächst sah es gut aus. Mein Großvater hatte die wildfarbende Schönheit mit dem hübschen Kopf inzwischen "Merle" getauft und sah sie anders als "ein normales Schlachtkaninchen". Er war mit eingebunden in ihre Futterumstellung, weg vom Mastfutter hin zum Salat und viel Heu, sah die positiven Veränderungen an ihr und "wie viel doch machbar war bei so etwas".
Leider wanderte der Abszess noch weiter. Zwar hatten wir den hinteren Teil der Abszesskapsel gut unter Kontrolle, doch fand der Eiter seinen Weg zum Vorderbein bis zum Ellenbogen und erneut entwickelte sich eine große Beule. Nach Rücksprache mit unserer Tierärztin behandelten wir jetzt regelmäßig mit Penicillin und haben aufgehört zu Spülen, da wir die Eitererreger doch nur "hin und her" spülten. Der Abszess wurde nochmal gespalten und mit einem scharfen Löffel ausgeschabt, leider war alles sehr stark nekrotisch und genau dort, wo sich der Abszess seinen Weg gesucht hatte verliefen große Gefäße, die von der Innenseite nach außen traten. Es gab eine starke Blutung und wir alle zitterten um Merle, die uns doch schon sehr ans Herz gewachsen war. Doch am nächsten Tag durften wir aufatmen, es ging ihr deutlich besser.
Von da an zeigte sich eine stetige Besserung. Die Futterumstellung verlief gut, es kam beim Eröffnen und Ausmassieren des Abszesses kaum noch Eiter, die Intervalle wurden größer und der Abszess bildete sich nekrotisch zurück und die Überlegungen für ein Zuhause für Merle kamen in Schwung. Sarah-"Clonni" suchte eine Partnerin für Harvey und schnell war klar: innerhalb unseres sweetrabbits-Teams, häufige Berichterstattung und die Sicherheit auf ein tolles Heim, dafür ist auch eine Fahrt von 300 km kein Problem.
Die Vorbereitungen begannen, die Kotprobe wurde abgegeben, natürlich war auch hier noch eine Baustelle - bei der Herkunft kein Wunder - und wir behandelten, jetzt, wo das größte Problem gebannt schien eine ganze Lehrbuchansammlung von Parasiten. Kokzidien, Spulwürmer und Hefen, es war alles dabei. Doch auch die bindegewebigen Knoten der Abszessrückbildung wurden nicht kleiner, immer wieder konnte man es "schmatzen" hören, wenn man es abtastete. Auch unsere Tierärztin vermutete einen wiederkehrenden Abszess. So beschlossen wir, Merle doch noch einmal in Narkose zu legen und die komplette Abszesslänge entlang aufzuschneiden.
So viel Schneiden musste man dann zum Glück doch nicht, der Schnitt etwa 5 cm lang, zeigte, dass darunter wirklich nur Bindegewebsknoten und das "Schmatzen" nur Luft war. Ein solch großer Abszess scheint sich so schwierig und nur unter Ausbildung von großen Mengen Bindegewebe zurück zu bilden und resorbiert Luft sehr schlecht. So musste Merle noch das Verheilen der Naht und die Kotprobe nach der Parasitenbehandlung aussitzen, wobei sie immer noch nicht außerhalb ihrer Bucht gewesen zu sein schien und dann traten wir am 18.01.2015 den Weg nach Wuppertal an.
Merle war völlig geschockt und bewegte sich kaum in ihrer Box, die gesamte dreistündige Fahrt nicht. Doch bei Sarah angekommen sollte sie noch genug Bewegung bekommen. Außerdem verkündete mein Großvater mir nach Merle's Abreise, dass er keine Schlachtkaninchen mehr halten wolle. Wieviel Charakter in einem solchen Tier steckt und wie Kaninchen in artgerechter Haltung aufblühen hat ihn überzeugt, dass nicht nur meine "kleinen Zwergkaninchen" ein solches Leben führen sollten und dies erzählte er auch voller Überzeugung einigen seiner "Schlachtkaninchen-Bekanntschaften". So ist Merle's Geschichte gleich in doppelter Hinsicht ein voller Erfolg!
Clonni-Sarah aus dem sweetrabbits-Team berichtet:
Nachdem die Mutter und Geschwister meines Pflegekaninchens Harvey ausgezogen waren und klar wurde, das Harvey bei mir bleiben würde, wollte ich mir einen lang ersehnten Traum erfüllen: ein Riesenkaninchen als Partnerin für den ziemlich dominanten Haudegen Harvey. Es war gerade ein paar Wochen her, dass Tina die wildfarbene Riesendame bei sich aufgenommen hatte und ihr schönes Gesicht hatte mich bereits bei dem ersten Blick auf die Bilder von ihr verzaubert. Also bewarb ich mich um Merle in der Hoffnung, dass Harvey sie mindestens genauso toll finden würde wie ich.Der Deal war schnell gemacht und so durfte Merle am 18.1.2015 bei mir einziehen. In einem Raum meiner Wohnung stellte ich ein großzügiges Gehege auf und richtete es für die Vergesellschaftung riesengerecht ein. Außerdem wurde ein neues Kaninchenhaus von gigantischen Ausmaßen gebaut, denn der großen Schönheit sollte es in ihrem neuen Leben schließlich an nichts mangeln und Harveys bisheriger Unterschlupf wäre viel zu klein für ein Kaninchen von Merles Größe gewesen. Viele rutschfeste Teppiche und großzügig verteiltes Futter sollten für optimale Rahmenbedingungen während der Vergesellschaftung und ein schnelles Einleben der Großen sorgen. Ich glaubte bestens auf das Kommende vorbereitet zu sein und wartete etwas nervös aber zuversichtlich auf die Ankunft von Tina und Merle.
Als es endlich soweit war, setzten wir Merle zuerst in das Gehege, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich mit der neuen und überaus ungewohnten Umgebung auseinander setzen zu können. Die Kaninchen, die ich bisher kennengelernt habe, reagierten auf neue Gehege durchaus unterschiedlich: manche versteckten sich zunächst ängstlich und erkunden später nach und nach ihre Umgebung, wenn sich der erste Schreck gelegt hat, andere sind sehr neugierig und müssen sofort ihre Nase in jede kleinste Ecke bohren. Merles Reaktion jedoch war vollkommen neu für mich.
Sie hetzte unkoordiniert durch die Gegend, wusste nicht in welche Richtung sie zuerst abhauen sollte und schielte die ganze Zeit panisch zur Zimmerdecke. Als ein Tier, das sein gesamtes bisheriges Leben nur in Buchten verbracht hatte war sie mit der Situation, auf einmal Platz über sich zu haben, vollkommen überfordert. Zum ersten Mal konnte sie sich frei bewegen, ohne das ihre Löffel an die Decke stießen, konnte sie Männchen machen und hatte ausladenden Raum um sich herum, ohne direkt die nächste Wand vor der Nase zu haben.
Auch nachdem sich Merles Angst etwas gelegt hatte und wir Harvey zu ihr setzten, reagierte sie vollkommen kaninchenuntypisch. Der dominante Harvey machte sich eifrig daran, der Großen zu zeigen was eine Harke ist und die wiederum wusste vor lauter Überforderung nicht, in welche Richtung sie abhauen sollte, bevor sie sich irgendwann auf das Dach des Hauses flüchtete und dort blieb. Erst ein paar Tage später begann sie langsam aufzutauen und sowohl ihren kleinen Partner, als auch den weitläufigen Platz schätzen und lieben zu lernen. Ich hatte große Hoffnung, dass die langen Strapazen, die dieses Tier durchleben musste nun ein Ende hatten, doch leider irrte ich.
Wenige Wochen nach ihrem Einzug brach bei Merle Ohrenräude aus - eine für Schlachtkaninchenbestände typische Milbenerkrankung, die dort im Regelfall allerdings nicht behandelt wird, da das Leben der Tiere bereits zu Ende ist, bevor der Befall wirklich schlimm werden kann. Außerdem eierte Merle auf seltsam unsicheren Hinterläufen durchs Gehege und auch die Bindegewebsknoten an ihrer linken Körperseite waren bisher nicht kleiner geworden. Ein erneuter Tierarztbesuch war unumgänglich und man kam überein, den großen Knubbel, wo einst der Abszess gesessen hatte, noch einmal zu punktieren und das Bein zu röntgen, um Klarheit zu bekommen, was da nicht stimmte.
Die Gewissheit war niederschmetternd: an Merles linker Körperhälfte hatten sich erneut ein sehr großer und sehr viele kleine Abszesse gebildet, von Bindegewebe war keine Spur mehr. Zudem zeigte das Röntgenbild des Beines einen inoperablen Oberschenkelhalsbruch - was alle sehr erstaunte, schließlich hatte sich Merle bis auf eine leichte Unsicherheit auf den Beinen keinerlei Schmerzen anmerken lassen. In einer erneuten Operation wurden alle Abszesse, die teilweise bis unter die Muskulatur gingen, aber glücklicherweise in sich geschlossen waren, entfernt. Und wieder glänzte Merle mit einem großartigen Schutzengel und einem noch stärkeren Lebenswillen, denn kaum dass sie zurück in ihrem Gehege war, stürzte sie sich auf Futter und Leckerlies, zeigte von Schmerzen keine Spur und war einfach nur froh, wieder zu Hause zu sein. Nur der fast 10cm lange Schnitt der OP und die kahl rasierte Seite verrieten, dass sie überhaupt beim Tierarzt war. Und so sollte es auch die kommenden Tage bleiben: Schmerzmittel wurde strikt abgelehnt und nur dann genommen, wenn ich es als Haferflockenbeigabe reichte.
Erst jetzt, viele Wochen nach der Operation und den ganzen Strapazen seit ihrer Ankunft kann Merle anfangen, ein richtiges Kaninchenleben zu führen. Der Bruch verheilt langsam, aber Merle arrangiert sich damit und beginnt wieder besser zu hoppeln und höher springen zu können. Und nicht nur das: in der Zeit, die sie nun hier ist, hat sie in Harvey einen tollen Partner gefunden. Sie hat Vertrauen zu mir gefasst, ist eine große Meisterin der Bettelkunst geworden und genießt es, von mir gekuschelt und gestreichelt zu werden.
Außerdem hat sie nun ihre Vorliebe fürs Buddeln entdeckt und wühlt und gräbt sich durch alles, was sie nur finden kann, ganz gleich, ob Toilette, Handtücher oder Buddelkiste. Sie hat ihre hektische Art nie abgelegt und flüchtet heute noch blitzschnell, sobald sie ein unbekanntes Geräusch hört oder Harvey sie mal jagt - allerdings ins Haus, anstatt die Wand hoch. Hier durfte sie lernen, was es heißt, ein Kaninchen zu sein und was Leben bedeutet. Und wenn Merle eines weiß, dann ist es, dass man sein Kaninchenleben in vollen Zügen genießen sollte. Erst recht, wenn man es dem Glück verdankt, Müll gewesen zu sein.
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